Da ist aber was dran. Die großen Verbände müssen darüber nachdenken sich zu reformieren (mehr liberaler Geist, das klare Ausgrenzen fundamentalistischer Vereine wie die Grauen Wölfe u.w.) und sich dazu äußern, dass brutale Teile des Korans nicht mehr zeitgemäß sind.
Das lässt sich von mir leicht sagen, klar, aber es fällt einfach auf, dass oftmals sämtliche Ansätze weggeschoben werden, mit dem Hinweis die Terroristen seien gar keine Muslime gewesen. Aber die beziehen sich auf Teile des Korans. Und die stehen da drin.
Es ist mMn an der Zeit theoretische Grundsatzdebatten mit der Öffentlichkeit zu debatieren und sich von radikalem Gedankengut zu trennen. Da gibt's Nachholbedarf.
Wen repräsentieren denn die "großen Verbände"? In Deutschland werden maximal 20% der Muslime durch die muslimischen Verbände repräsentiert (vorrangig türkische Muslime). Die große Herausforderung besteht im Islam ja gerade darin, dass es keinen ausgeprägten Klerus geben darf (ich weiß, die Realität sieht zum Teil anders aus), welcher den Gläubigen ihren Weg vorlegt. Auf diese Weise gibt es die unterschiedlichsten Richtungen und in der Theorie haben alle ihre Berechtigung. Somit ist es im Islam einfacher, eine liberale Bewegung zu starten (gibt es schon seit langer Zeit, in Deutschland war insbesondere Muhammad Asad der Vorreiter für eine moderate Auslegung des Korans und er hatte etliche bekannte Schüler, zudem sollte man niemals den Einfluss von Khorchide unterschätzen), auf der anderen Seite ist es umso schwieriger solche Bewegungen zu vereinheitlichen und diese quasi in eine neue Rechtsschule münden zu lassen (anders herum bin ich der Meinung, dass man mal mit den angestaubten Rechtsschulen gründlich aufräumen müsste).
Bezüglich der brutalen Teile des Korans: Rausstreichen kann man sie ja nicht, sonst hätte das gesamte Konstrukt des Islam keinen Sinn mehr, weil man ja Gottes Wort auf diese Weise anzweifeln würde. Allerdings sollte es einem bewusst werden, dass jene Teile (immer gerne als "Schwertverse" zusammengefasst) ebenso einen Sinn besitzen, welchen man jedoch nur mit ausführlicher Auseinandersetzung mit dem historischen Material erschließen kann. Hierzu gibt es Korankommentare und verschiedene Arten von Exegese (basierend auf wissenschaftlicher Methodik). Wenn sich etliche Abschnitte konkret auf einzelne historische Schlachten beziehen, dann kommt man schnell dahinter, dass man aus jenen Versen keine universellen Parolen basteln kann ("tötet die Ungläubigen, wo ihr sie nur findet").
Hier besteht aber schon das nächste Problem: Gerade eher bildungsschwache und / oder perspektivlose Menschen setzen sich eher wenig mit der Materie selbst auseinander, sondern lassen sich von rattenfängerischen Hasspredigern manipulieren, die ihnen ein einfaches und zumindest aus ihrer Sicht plausibles Bild des Islam vermitteln (an sich stößt insbesondere das Koranverständnis der Salafiyyah auf etliche Widersprüche, aber das wäre jetzt zu umfangreich dies zu erläutern).
Stichwort Salafiyyah: Diese Sekte steht ja mehr als jede andere muslimische Gruppierung für eine radikale Auslegung. Tatsächlich ist sie eine Reformbewegung, welche sich gegen die großen sunnitischen Rechtsschulen stellte, welche ihrerseits im 13. Jahrhundert stehen geblieben sind (dank der unstabilen politischen Lage). Sie ist quasi parallel mit liberalen Reformbewegungen entstanden und hat das Motto "back to the roots" (haben die liberalen Bewegungen oftmals auch, nur ist die Interpretationsmethodik des Korans grundlegend anders). Meine Meinung ist: Das meiste Übel der aktuellen islamischen Welt ist von der Salafiyyah beeinflusst (welche aus den Wahhabismus entstanden ist, also ein einst Saudi Arabisches Konstrukt). Der IS ist ein typisches Beispiel dafür, welches Ausmaß dieser Hype um die Salafiyyah haben kann. Der Einfluss in der Welt wird auch stetig größer, eben gerade durch die besonders einfache Vermittlung, die Aufnahme gesellschaftlicher Verlierer und dem starken Zusammenhalt innerhalb der Bewegung (hier sind sie den liberalen Bewegungen voraus).
Soweit erst einmal. Ich frage mich, wie du dir eine öffentliche, theoretische Grundsatzdebatte vorstellst. In Anbetracht dessen, dass etliche Leute - pardon - keinen blassen Schimmer vom Islam haben und sich nur auf Kampfbegriffe wie Dschihad, Scharia etc. (alle völlig falsch definiert) stürzen...
Keiner wird einen gläubigen Muslimen davon überzeugen können, dass etwas das Mohammed gesagt hat nicht mehr zeitgemäß ist.
Hier muss man differenzieren. Zum einen hat man den Koran, also Gottes Wort, welches eben nicht von Muhammad verfasst wurde. Er selbst kommt namentlich hier kaum vor und erhält keinen größeren Stellenwert als alle andere Propheten (meiner Meinung nach ragt Isa - also Jesus - im Koran sogar noch mehr heraus). "Muhammads Wort" wird durch die Ahadith - mündliche Überlieferungen, welche später über eine Überlieferungskette von anderen Personen aufgeschrieben wurden - wiedergegeben. Etliche dieser Ahadith sind allein von der Überlieferungskette nicht authentisch und es kann durchaus sein, dass so manche Person etwas dazu gedichtet hat. Noch mehr als bei der Analyse des Korans muss man hier aufpassen, was man hier wortwörtlich und universell verstehen kann. Denn auch Muhammad war letztendlich nur ein Mensch, der seine Fehler hatte. Mir scheint es leider so, als ob einige Muslime den Fehler machen und Muhammad quasi vergöttlichen. Und gerade dies - shirk - ist eigentlich eine der größten Sünden im Islam.
Um mal ein Beispiel zu geben: Wenn jemand stiehlt, ist ihm die Hand abzuhacken. Nicht mehr zeitgemäß?
Er hat das so erklärt: Diese Reglung muss mit dem Hintergrund eines perfekten Islamischen Staates (Achtung! Begriff momentan stark belastet!) betrachtet werden. In einem solchen System, wo die Reichen sehr viel an die Armen abgeben und somit keiner weder Not noch Hunger leiden muss, gibt es keinen Grund zu stehlen. Nur in einem solchen Fall würde ihm also die Hand abgehackt werden (also praktisch eig. niemals, da es dieses perfekte System nicht gibt.). Wenn jedoch aus Not heraus gestohlen wird, dann nicht.
Ebenso ist es bei Ehebruch, bei welchem 2 Zeugen den Akt des Ehebruchs (Sex) gesehen haben müssen. Das ist praktisch kaum möglich, wenn sich die Betroffenen dessen bewusst sind. Diese harten Strafen sind also mehr symbolisch zu betrachten dafür, dass diese Vergehen außerordentlich schlimm sind.
Finde es soweit gut, was dir dein Mitbewohner da erklärt hat. Hat er dir eigentlich noch etwas zu Homosexualität gesagt? Ein sehr spannendes Feld. Sprich ihn mal bitte darauf an und teile mir mit, was er dir sagte. Habe da schon etwas in der Hinterhand parat.
Bezüglich des Diebstahls: Das ist ein möglicher Erklärungsansatz. Meiner ist wohl pragmatischer: Zu der damaligen Zeit gab es - zumindest in der Region - keine Gefängnisse, wie man sie sich heute vorstellt. Bestrafungen konnten aufgrund der mangelnden Möglichkeiten meistens nur direkt durchgeführt werden. Das Gebot des Handabhackens diente auf diese Weise vor allem der Abschreckung (es soll ja sogar einige Koranwissenschaftler geben, welche das Handabhacken vollständig analogisch verstehen) und war im zeitlichen Kontext von der Härte sogar recht passend.
Hier möchte ich mal ein schönes Zitat einwerfen, um alles noch komplizierter zu machen: "Gut" sagte Baba, "also egal was der Mullah auch lehren mag, es gibt nur eine Sünde, eine einzige Sünde. Und das ist der Diebstahl. Jede andere Sünde ist nur eine Variante davon. Verstehst du das?" - "nein, Baba jan…" - "Wenn du einen Mann umbringst, stiehlst du ihm sein Leben, du stiehlst seiner Frau das Recht auf einen Ehemann, raubst seinen Kindern den Vater. Wenn du eine Lüge erzählst, stiehlst du einem anderen das Recht auf Gerechtigkeit. Begreifst du jetzt?" - Kahled Hosseini aus dem Buch Drachenläufer